›Lessing-Preis für Kritik‹ 2020

Preisverleihung am 11. Oktober 2020
Lessing-Akademie, Die Braunschweigische Stiftung & Stadt Wolfenbüttel

Der Lessing-Preis für Kritik trägt dazu bei, Lessings Gedanken in Gegenwart und Zukunft zu überführen. In besonderer Weise gilt dieses für die Äußerung und den Umgang mit Kritik im gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Kontext und wird, analog zur kritischen und risikofreudigen Tätigkeit Lessings, nicht für eine fachspezifische Kritik, sondern für Kritik in einem umfassenden Sinn verliehen. Zu seiner Besonderheit zählt, dass der Preisträger einen Förderpreisträger seiner Wahl be­stimmt.

Den Lessing-Preis für Kritik 2020 erhielt die Schriftstellerein und Publizistin Ines Geipel. 

Die Preisvergabe 2020 greift in aktuelle ungelöste Probleme ein; pünktlich zur 30jährigen Wiedervereinigung ist die Aufarbeitung der deutsch-deutschen Teilungsgeschichte noch nicht abgeschlossen. Von dem Ausgangspunkt eigener Erfahrung sind das Verschweigen und Verdrängen mit ihren psychosozialen Folgen zum zentralen Untersuchungsfeld von Ines Geipel geworden. In ihren Romanen, Essays und literarischen Sachbüchern hat sie es verstanden, die Erfahrungen des Einzelnen immer auch in ihrer politisch-historischen Dimension und als Resonanzraum für die Gegenwart zu erörtern.

Als Literaturwissenschaftlerin hat sie sich für die Rehabilitierung von Autorinnen und Autoren in der DDR eingesetzt, die aus politischen Gründen ›unsichtbar‹ gemacht wurden. Diese Arbeit mündete ab 2000 in den Aufbau der ›Archivs der unterdrückten Literatur in der DDR‹.

Förderpreisträgerinnen: Margarita Maslyukova, Ekaterina Melnikova und Ekaterina Pavlenko

Die internationale Menschenrechtsorganisation ›Memorial‹, gegründet während der Perestroika in der Sowjetunion, sieht den Kern ihrer Arbeit an die zahllosen Opfer des sowjetischen Staatsterrors zu erinnern. Staatliche Repressionen mobilisieren die Zivilgesellschaft und vor allem junge Menschen. Deshalb benannte Ines Geipel drei junge Historikerinnen von ›Memorial‹. Der Lessing-Förderpreis geht an Margarita Maslyukova, Ekaterina Melnikova und Ekaterina Pavlenko, deren Arbeit sich dem Aufbruch, den Stimmen, den Geschichten und dem Gedächtnis der russischen Revolution von 1989/91 widmet.

Hier ein Auszug der Jurybegründung:

Den Lessing-Preis für Kritik 2020 erhält die Schriftstellerin und Publizistin Ines Geipel.

Von dem Ausgangspunkt eigener Erfahrung sind das Verschweigen und Verdrängen mit ihren psychosozialen Folgen zum zentralen Untersuchungsfeld von Ines Geipel geworden. In ihren Romanen, Essays und literarischen Sachbüchern hat sie es verstanden, die Erfahrungen des Einzelnen immer auch in ihrer politisch-historischen Dimension und als Resonanzraum für die Gegenwart zu erörtern.

Als Literaturwissenschaftlerin hat sie sich für die Rehabilitierung von Autorinnen und Autoren in der DDR eingesetzt, die aus politischen Gründen ›unsichtbar‹ gemacht wurden. Diese Arbeit mündete ab 2000 in den Aufbau der ›Archivs der unterdrückten Literatur in der DDR‹. Die komplexen Zwänge einer Diktatur mit ihren zersetzenden Wirkungen auf den Einzelnen sind Thema ihrer Romane Das Heft (1999), Heimspiel (2005) und Tochter des Diktators (2017). Im Frühjahr 2019 erschien Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass, ein historiographisch und familienbiographisch angelegter Großessay. Ausgangspunkt sind die Verstrickungen der eigenen Familie in die Holocaust-Verwaltung, die SS, die Stasi. Geipel beschreibt eine Geschichte des Mitmachens und Verdrängens, die, weil sie nie zur Sprache kam, auch die Folgegenerationen deformierte. Es sind Schäden, die nach der Implosion der ostdeutschen Diktatur dem Aufbau einer offenen und partizipativen Demokratie entgegenstehen.

Die Sprache von Geipels Büchern – eine in kurzen Sätzen gehaltene »brillante Prosa« (Rainer Moritz) – bricht das Schweigen über Erfahrungen, die nie allein den Einzelnen betreffen. Vielmehr rekonstruieren ihre Texte diese Erfahrungen durchweg als gesellschaftliche Psychogramme. Mit der Macht der Ideologie in wörtlicher, schmerzhafter, körperlicher Weise in Berührung gekommen, hat Ines Geipel Worte für den einschlägigen Zusammenhang von Verdrängung und Gewalt gefunden, dem sie mit ganz eigenen Formen der Aufarbeitung begegnet.

Ihre Texte, oft konkret von körperlichen Verletzungen ausgehend, verfolgen deren Wirkung auf das Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft. Es sind hochoriginelle, ungewöhnlich mehrdimensionale Anregungen zur Selbstverständigung einer in vielen Fragen gespaltenen Bevölkerung. Sie erhellen deren aktuelle Verunsicherungen und die Unversöhnlichkeit ihrer Auseinandersetzungen bis tief in den Seelenzustand der Gesellschaft hinein. Ines Geipels Werk übt eine im eigentlichen Sinn der Aufklärung nicht rationalistisch verkürzte, am Konzept des ganzen Menschen orientierte Kritik.

Unter diesem Link ist das Gespräch im Rahmen der Preisverleihung zwischen dem Präsidenten der Lessing-Akademie, Professor Dr. Cord-Friedrich Berghahn und dem Vorsitzenden der Braunschweigischen Stiftung, Ministerpräsident a.D. Gerhard Glogowski nachzulesen.

Weiterhin finden Sie hier die Laudatio von Frau Dr. Insa Wilke.